KOMPONISTINNEN UND IHR WERK
Spurensuche in Europa


26. – 28. November 2004
Lutherkirche Kassel




Werke von 20 rumänischen Komponistinnen:

Irinel Anghel, Ana Maria Avram, Carmen Petra Basacopol, Carmen Maria Cârneci,
Dora Cojocaru, Diana Danciu, Violeta Dinescu, Ana Julia Giurgiu,
Adriana Hölszky, Laura Manolache, Myriam Marbe, Irina Odagescu,
Rucsandra Popescu, Dana Probst, Diana Rotaru, Doina Rotaru,
Diana Simon, Livia Teodorescu, Sabine Ulubeanu, Mihaela Vosganian

26.11.2004, Lutherkirche Kassel 
18.00 Uhr Eröffnung
19.00 Uhr 1. Konzertnacht:
1) Rumänisches Kaleidoskop I  2) Variationen für einen Flötisten
3) Rumänisches Kaleidoskop II 4)  Rumänische Folklore (Ens. Contraste)


27.11.2004, Lutherkirche Kassel 
11.00 Uhr Komponistinnenforum
(Cârneci, Dinescu, Anghel, Vosganian, Probst,Popescu, Rotaru, Teodorescu)
14.00 Uhr Vorträge: Violeta Dinescu, Carmen Maria Cârneci, Mihaela Vosganian
16.00 Uhr Podium der Jungen (Konzert mit Rucsandra Popescu, Klavier und
Trio Contraste)
19.00 Uhr 2. Konzertnacht:
1) Porträtkonzert Doina Rotaru 2) Konzert PRO CONTEMPORANIA
3) Improvisation/Crossover  (Ens. Contraste/PRO CONTEMPORANIA)


28.11.2004, Gloria-Kino, Ständeplatz
11.30 Uhr Stummfilm TABU von F.W. Murnau, Musik von Violeta Dinescu
Live-Musik: Ensemble Contraste, Einführung Violeta Dinescu
in Kooperation mit:  Filmladen Kassel, Freunde des Stadtmuseums Kassel
15.00 Uhr Lutherkirche Abschlussdiskussion; Moderation: Dr. Detlef Gojowy

Interpreten:

Ensemble Contraste Timisoara ); Ensemble PRO CONTEMPORANIA (Bukarest);
Ensemble Polyhymnia ( Hannover ); Christel Nies, Stimme; Angelina Soller, Mezzosopran;
Ionut Bogdan Stefanescu, Flöte; Otfrid Nies, Violine; Stefan Hülsermann, Klarinette;
Skerza Singer, Viola; Manfred Schumann, Violoncello; Bernhard Betzl, Percussion;
Rucsandra Popescu, Klavier; Hellmuth Vivell, Klavier

Eintrittskarten: Vorverkauf ab 5.11.04 bei Bauer & Hieber/Musikhaus Eichler, Ständeplatz und Konzertkasse

Film TABU: Vorverkauf Gloria-Kino (Einheitspreis € 10,--)

Rückblick Konzertwochenende Rumänien 2004
Ein Bericht von Detlef Gojowy
Der liebe Gott selbst mag am besten wissen, was ihn bewog, Komponistinnentalente so reichlich in jene lateinische Exklave am Schwarzen Meer zu vergeben. Zwanzig rumänische Komponistinnen waren es, deren Stücke Christel Nies mit ihrem Projekt „Komponistinnen und ihr Werk – Spurensuche in Europa“ am letzten Novemberwochenende präsentierte – darunter nicht nur unbekannte. Adriana Hölszky (*1953) reussierte in Stuttgart und Frankfurt mit experimentellen Opern und lehrt nach einer Professur in Rostock jetzt am Mozarteum Salzburg; Violeta Dinescu (*1953), Professorin in Oldenburg, ist in Bonn mit der Kammeroper „Hunger und Durst“ nach ihrem Landsmann Eugène Ionesco, in Mannheim mit dem „35. Mai“ nach Erich Kästner und in Magdeburg mit „Effi Briest“ nach Fontane in Erinnerung, Carmen Maria Cârneci (*1957), seinerzeit DAAD-Stipendiatin in Freiburg, ebenfalls in Bonn mit ihrer Oper „Giacometti“, und sammelte Dirigentinnenruhm u.a. in Stuttgart, Graz und Mailand, Doina Rotaru (*1951) Kompositionsaufträge in Frankreich. Europäische Avantgarde ist die selbstverständliche Arena rumänischer Komponistinnen.

Rationale Erklärungen könnten lauten: Rumänien gelangte nach Leitbildern wie Bartók und vor allem George Enescu in den 50er, 60er Jahren, trotz Stalin-Folklorismus bzw. in  Auseinandersetzung damit zu einer nicht genormten Neuen Musik, die vielleicht wegen ihrer lateinischen Wurzeln und antiken Traditionen in Royan oder Darmstadt verwandt und gültig klang. Eine Plejade damals junger Komponisten – Stefan Niculescu, Aurel Stroe, Tiberiu Olah, Anatol Vieru - hatte einen selbständigen rumänischen Weg gefunden; zu dieser Gruppe gehörte eine aktive Frau: Myriam Marbe (1931-1997), die diesen Weg um ihre eigene Dimension des Rituellen und Archaischen bereicherte. Parteifunktionäre standen Kopf ob ihres bei der Ostberliner Biennale 1971 vom Bukarester Kammerchor präsentierten „Rituals für den Durst der Erde“ – Dekadenz aus dem Westen könne man ja abwehren, aber nun käme dergleichen sogar aus einem sozialistischen Land, und die jungen Komponisten würden das nachmachen! Viele der jetzt in Kassel Erklingenden waren Schülerinnen oder schon Enkelschülerinnen von Myriam Marbe, die übrigens 1961 mit dem Mannheimer GEDOK-Preis einen der ersten deutschen Kompositionspreise errang.

Worin die Besonderheiten dieser Neuen rumänischen Musik bestünden, war Diskussionsthema in Kassel. Beruhend auf einer einstimmigen Musikkultur, liege ihr Akzent auf der Melodie, auf der „Horizontale“ (und das, wie die Konzerte zeigten, unter einem klassischen Schönheitsbegriff). Sie ist vielfältiger und differenzierter in ihren Intervallen, insofern sie auf das byzantinische Tonsystem der orthodoxen Kirche zurückgreife, die die Oktave in mehr als zwölf Stufen einteilt, und in ihren Formen durch den Erhalt des archaischen Prinzips der Heterophonie aus uralter Folklore, die in Rumänien hochvirtuose Züge entwickelte.
Doch auch andere Spuren lassen aufhorchen. Doina Rotaru (ihr war ein Abendprogramm gewidmet) erinnert rituell mit „Crystals“ an Henry Cowells „Banshee“, oder knüpft in „Clocks“ (1987) mit tonmalerischer Virtuosität etwa an die Mechanistik der französischen Clavecinisten (z.B. Couperins „Tic-toc-choc“) oder der russischen Expressionisten (z.B. Alexander Mosolovs „Eisengießerei) an.

Den Höhepunkt bildete eine Aufführung im Gloria-Kino gemeinsam mit dem „Filmladen Kassel“: die Kammerversion der Filmmusik zu Friedrich Wilhelm Murnaus letztem Stummfilm „Tabu“ (1931), dereinst in der Orchesterversion ein Kompositionsauftrag der Alten Oper Frankfurt 1988 an Violeta Dinescu. Die herzzerreißende Legende einer Liebestragödie auf der paradiesischen Südseeinsel Bora-Bora, galt der Film, mit Einheimischen gedreht, zunächst als „Dokumentarfilm.“ Ihn in seinen dramatischen und fotografischen Qualitäten zum Filmereignis zu machen, gelang Dinescus Vertonung, die seinerzeit auf Vermittlung des Bonner Filmexperten Lothar Prox zustandekam. Aber ein Orchester bleibt schwerfälliger, kann weniger flexibel auf Bildnuancen reagieren als ein – wie hier - den Film verfolgendes Solistenquartett  in einer eigenen Bearbeitung - das Ensemble „Contraste“ aus Temesvar, das sich mit komplizierter Avantgarde ebenso virtuos erweist wie mit archaischer Folklore. So wurde das Ineinander von Bildablauf und musikalischer Geste zum berührenden künstlerischen Ereignis.




In Kassel (26. – 28.11.2004):
Von links: Detlef Gojowy (Musikpublizist), Rucsandra Popescu (Komponistin),
Mihaela Vosganian (Komponistin), Violeta Dinescu (Komponistin),
Irinel Anghel (Komponistin), Doina Rotaru (Komponistin, Andrei Kivu (Cellist),
Christel Nies und Carmen Maria Cârneci (Komponistin)